„Verzicht schult die Achtsamkeit“ – im Interview mit dem Focus spricht Leonard Wilhelmi, Geschäftsführer der Buchinger Wilhelmi Klinik Überlingen, über das Fasten als Initialzündung zu einer Lebensstiländerung und gibt Tipps, wie man auch nach einer Fastenkur achtsam essen kann.
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“Verzicht schult die Achtsamkeit”
Viele Übergewichtige scheitern immer wieder an Diäten. Heilfasten kann für sie eine Initialzündung zu einem gesünderen Leben sein, sagt Klinikchef Leonard Wilhelmi.
Herr Wilhelmi, in welcher Situation greifen Sie zu Chips oder Schokolade?
Viele denken ja, dass ich nie über die Stränge schlage, weil ich in einer Familie groß geworden bin, in der es immer um das Thema Fasten geht. Aber ich habe eine italienische Urgroßmutter, bei Pizza und Pasta werde ich schwach. Früher habe ich viel Rugby gespielt, jetzt nicht mehr so oft, der gesunde Sportler-Appetit ist geblieben. Ich versuche also, die Balance zu halten. Der Mensch ist ohnehin nicht dazu geschaffen, immer regelmäßig drei Mahlzeiten am Tag zu essen. Man kann ruhig mal viel und gut essen, wenn man am darauffolgenden Tag wartet, bis der richtige Hunger kommt.
Viele Menschen haben verlernt, wie sich Hunger anfühlt. Hilft Fasten dabei, achtsamer zu essen?
Definitiv. Beim Fasten wird das Verdauungssystem quasi in den Urlaub geschickt. Der Stoffwechsel stellt sich um. Das durchzuhalten fällt zu Beginn manchmal schwer. Manche haben Kopfschmerzen, andere fragen sich, was das Ganze überhaupt soll. Aber nach etwa zwei Tagen ist der Stoffwechsel umgestellt, und die meisten Menschen empfinden keinen wirklichen Hunger mehr, dann will man weitermachen, weil es ein tolles Gefühl ist.
Und irgendwann kommt der Moment, in dem man das Fasten bricht.
Bei uns in der Klinik gibt es dann den berühmten Apfel. Wenn man da reinbeißt, ist das wie eine Geschmacksexplosion. Die Sinne des Körpers werden reaktiviert, wie ein Motor, der wieder in Gang kommt. Diese Erfahrung nach dem Fasten führt dazu, dass vieles anders, intensiver schmeckt. Natürlich stärkt das die Achtsamkeit. Wir hatten mal einen Sternekoch hier, der hat erzählt, dass er durch das ständige Abschmecken extrem konzentrierter Soßen normale Alltagsaromen gar nicht mehr genießen konnte. Beim Fasten neutralisiert er seine Geschmackssinne. Andere, ich zum Beispiel, essen zu schnell. Sie lernen durch den Verzicht, bewusster zu genießen und das Sättigungsgefühl wieder wahrzunehmen. Essen ist ja ein wahres Sinnesspektakel, bei dem es nicht nur ums Sattwerden geht.
Hilft Fasten auch längerfristig, ein gesundes Gewicht zu halten? Oder muss man gleich das ganze Leben ändern?
Wer fastet, nimmt ab, logisch. Sie können aber durch eine einmalige Kur Ihr Übergewicht nicht für immer eliminieren. Wenn Sie danach wieder in die gleichen Muster reingehen, also Bewegungsmangel, ungesundes Essen, Alkohol, werden Sie relativ schnell wieder zunehmen. Für langfristige Erfolge müssen Sie Ihren Lebensstil grundsätzlich umstellen. Deswegen bieten wir auch entsprechende Beratung an wie Kochkurse und Sporttherapie. Gerade für sehr Übergewichtige, die vielleicht schon viele erfolglose Diätversuche hinter sich haben, kann Fasten ein starker Impuls sein, eine Initialzündung.
Sie integrieren auch Meditation, Yoga und andere Achtsamkeitstrainings in die Therapie. Warum?
Mein Urgroßvater Otto Buchinger, der Gründer dieser Klinik, war ein sehr spiritueller, religiöser Mensch. Er hat das Fasten auch in diesem Sinne als einen Transformationsprozess erlebt. Fast alle Weltreligionen nutzen Zeiten des Nahrungsverzichts zur Einkehr und Introspektion. Heutzutage nennt man das Mind-Body-Medizin. Wenn mir ein Gast beim Auschecken stolz verkündet, er habe fünf Kilo abgenommen und das war’s, bin ich regelrecht enttäuscht. Natürlich wollen wir mehr Inspiration für den Alltag mitgeben. Das machen wir über Angebote wie Yoga, Meditation, Tai-Chi, stille Wanderungen, auch über Konzerte, Lesungen und Kunstwerke.
Haben Sie das Gefühl, dass sich die Akzeptanz für spirituelle Angebote in den letzten Jahren verändert hat?
Sicher. Die Kirchen sind leer, wir sind auf Sinnsuche. Das hat sich seit Beginn der Covid-Pandemie noch verstärkt. Viele fühlen sich gestresst und einsam, weil Ablenkungen fehlen. Achtsamkeitstraining kann in Krisenphasen sehr hilfreich sein.
Wie nimmt man nach einer Fastenkur diese Achtsamkeit in den Alltag mit?
Natürlich fällt man schnell in alte Muster. Wer zweimal im Jahr eine Woche fastet, dem bleiben noch 50 weitere Wochen, in denen er sich möglichst gesund ernähren sollte. Intervallfasten ist da eine gute Möglichkeit. Ich lasse das Frühstück weg, das fällt mir am leichtesten. Andere verzichten vielleicht lieber auf das Abendessen. Wer eine regelmäßige Mini-Fastenphase von 16 Stunden einhält, tut seinem Körper viel Gutes. Das ist eine sehr einfache Methode, achtsam zu essen.
INTERVIEW: BARBARA JUNG-ARNTZ