Der Verzicht auf Nahrung ist in vielen Kulturen uralte Tradition. Die Forschung belegt nun, dass Fasten eine segensreiche Wirkung auf den menschlichen Stoffwechsel entfalten kann und vielen Alterskrankheiten vorbeugt. Die Rückbesinnung auf bewusste Entsagung ist so aktuell wie nie
(Veröffentlicht am 03.03.2019 in der Welt am Sonntag, von Birgit Herden, Jörg Zittlau)
“Das Fasten ist die Speise der Seele.” Als Johannes von Antiochia den Satz niederschrieb, war das Mittelalter noch nicht angebrochen, Begriffe wie Übergewicht, Diabetes oder Bluthochdruck dürften unbekannt gewesen sein. Doch für den Kirchenlehrer aus dem 4. Jahrhundert stand fest: Wer wenig bis gar nichts isst, der “erhebt seine Seele und lässt sie über himmlische Dinge nachdenken”. Auch in allen anderen Weltreligionen ist das Fasten fest verankert. Jesus begab sich dafür für 40 Tage in die Wüste und konterte die Versuchung des Teufels mit den Worten: “Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.” Im Judentum wird vor den Feiertagen Purim und Pessach sowie an Jom Kippur gefastet. Der Prophet Mohammed zog sich regelmäßig zum Fasten und zur Meditation auf den Berg Hira zurück, Muslime fasten daher heute im Ramadan zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang. Hinduistische Gurus halten lebenslang Askese. Und in buddhistischen Klöstern der Theravada-Tradition wurde schon Intervall-Fasten praktiziert, lange bevor der Begriff erfunden wurde.
Seit Johannes von Antiochia sind rund 1700 Jahre vergangen, doch der freiwillige Verzicht auf Nahrung scheint in der Überflussgesellschaft an Faszination zu gewinnen. Laut einer Forsa-Umfrage hält es inzwischen jeder zweite Deutsche für sinnvoll, für einige Wochen auf ein bestimmtes Genussmittel zu verzichten, vorzugsweise in der 40-tägigen christlichen Fastenzeit zwischen Aschermittwoch und Ostern. Zudem boomen die Angebote des Heilfastens von Kliniken oder Urlaubsanbietern. Und wem es weniger um innere Einkehr, sondern eher um eine bessere Ernährung im Alltag geht, der praktiziert Intervall-Fasten.
Die Motivation der Fastenden kann ganz unterschiedlich sein, doch die Wirkung auf Körper und Psyche interessiert inzwischen auch die Wissenschaft. Kürzlich ist die bislang größte Studie zum Buchinger-Fasten (siehe Kasten) erschienen. Dafür wurden 1422 – teilweise übergewichtige – Patienten untersucht, die zwischen fünf und 20 Tagen an der Buchinger Wilhelmi Klinik im schwäbischen Überlingen fasteten. An der Auswertung der Daten waren neben der Klinikleiterin Françoise Wilhelmi de Toledo auch Wissenschaftler aus Frankreich, den USA und der Charité in Berlin beteiligt.
Erwartungsgemäß wirkte sich die Fastenkur vor allem auf den Stoffwechsel der Probanden aus. Die Kohlehydratspeicher leerten sich, stattdessen wurde zunehmend Energie aus den Fettreserven gewonnen. In der Folge verbesserten sich die Blutdruck-, Zucker- und Blutfettwerte, während die Ketone deutlich zunahmen. Ketone entstehen beim Fettabbau, sie versorgen Gehirn und Körper mit Energie, wenn keine Glukose mehr zur Verfügung steht. Darüber hinaus können Ketone günstig auf das Gehirn wirken und werden daher bei der Behandlung von Alzheimer, Parkinson und Depressionen diskutiert.
Vielleicht ist es daher nicht verwunderlich, dass es den Überlinger Probanden psychisch im Verlauf des Fastens besser ging. 93 Prozent von ihnen fühlten sich deutlich stabiler und ausgeglichener als zu Beginn, ohne dabei Hunger zu verspüren. “In Deutschland hat Fasten ja Tradition, aber in Amerika sind die Leute fassungslos, wenn sie sehen, dass Menschen zwei oder drei Wochen nichts essen können und es ihnen dabei blendend geht”, sagt der an der Studie beteiligte Andreas Michalsen von der Charité in Berlin. Zur guten Stimmung könnte allerdings auch das luxuriöse Ambiente und die intensive Betreuung in der bekannten Buchinger Wilhelmi Klinik beigetragen haben. “Wir erleben auch Ähnliches in ambulanten Studien”, sagt Michalsen und wehrt die These von der Heilkraft des Luxushotels ab. “Fasten funktioniert auch im dunklen Hinterzimmer der Charité.”
Möglicherweise macht Fasten auch gute Laune, weil es Schmerzen und Beschwerden lindert. Von den Überlinger Test-Fastern litten anfangs rund 400 unter gesundheitlichen Problemen, nach der Buchinger-Kur beteuerten knapp 85 Prozent von ihnen, dass es ihnen viel besser gehe. Was zu früheren Studien passt, wonach Fasten eine entzündungshemmende Wirkung hat. Stimmungsaufhellend für die Probanden wirkte sicher auch, dass sie deutlich abspeckten, im Schnitt hatten sie 3,2 Kilogramm nach fünf Tagen Fasten und 8,6 Kilogramm nach 20 Tagen verloren.
Doch ist dieser Erfolg von Dauer? Der Frage ging ein Team um Rüdiger Wiebelitz und André-Michael Beer am Blankenstein-Hospital in Bochum nach. Die Forscher wollten herausfinden, ob vom Gewichtsverlust durch eine Buchinger-Kur sechs Monate später noch etwas übrig geblieben war. Zum Vergleich diente eine Probandengruppe, die eine der üblichen Reduktionsdiäten durchgeführt hatte. Von diesen Probanden wogen 80 Prozenten sechs Monate später mindestens fünf Prozent weniger als vor der Diät. Bei der Buchinger-Gruppe lag der Anteil nur bei 30 Prozent. “Was den langfristigen Gewichtsverlust angeht, scheint Fasten also unterlegen zu sein”, resümiert Wiebelitz. Vermutlich, weil es bei seinen Anwendern weniger zu einer generellen Umstellung des Lebens- und Ernährungsstils führe als eine Diät, die gezielt auf Abspeckeffekte aus ist.
Dennoch senkte das Heilfasten nachhaltig den Blutdruck: Bei den Hypertonikern unter den Bochumer Probanden war der Effekt auch ein halbes Jahr später noch zu beobachten. Als Erklärung kommen laut Wiebelitz mehrere Modelle infrage. Eines davon: “Fasten könnte eingespielte fehlerhafte Regulationsmechanismen in der Blutdruckregulation durchbrechen und dadurch eine Art Neustart ermöglichen.” Außerdem sei schon länger bekannt, dass es die Ausscheidung von Natrium anregt, das – in hohen Dosierungen – als eine der Hauptursachen von Hypertonie gilt.
Fasten kann also die Therapie von Stoffwechselstörungen und entzündlichen Erkrankungen unterstützen, zudem scheint der Verzicht der Seele gutzutun. Ob es allerdings, wie gern behauptet wird, den Körper von Giften und Schlacken befreit, ist fragwürdig. Denn den Begriff der Schlacken kennt die wissenschaftliche Medizin gar nicht.
Was eine Entgiftung betrifft, könnte beim Fasten sogar ein gegenteiliger Effekt auftreten. Denn manche Umweltgifte lagern sich gerade in den Fettdepots an und werden beim Abnehmen freigesetzt. Untersucht wurde das vor einigen Jahren von einem Forscherteam der südkoreanischen Kyungpook National University. Die Wissenschaftler analysierten das Blut von fast 1100 Männern und Frauen und stellten fest, dass die mit jeder Diät die Werte für DDT, Dioxin und den als Weichmacher bekannten Polychlorierten Biphenylen steil nach oben gingen. Umgekehrt zeigten die Probanden, die an Körpergewicht zulegten, deutlich niedrigere Werte. Ein ständiges Ab- und Zunehmen könnte also insgesamt die Toxinbelastung erhöhen. Doch während ein solches “weight-cycling” eine Zeit lang im Verdacht stand, Krankheiten und vorzeitige Todesfälle zu befördern, gibt es bei genauerer Analyse keinen solchen Effekt, wie Forscher der University of Alabama in Birmingham durch eine Auswertung der verfügbaren Studien gezeigt haben.
Stattdessen mehren sich die Hinweise, dass der periodische Verzicht auf Nahrung für den menschlichen Stoffwechsel eine dringend benötigte Entlastung darstellt. Schon länger haben Altersforscher bei Tieren gezeigt, dass eine “kalorische Restriktion” die Lebensspanne verlängert und Alterskrankheiten wie Krebs, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen reduziert. Dabei wird allerdings die Menge an Kalorien um 15 bis 40 Prozent verringert – und das ein Leben lang.
Die wenigsten Menschen würden allerdings eine solche Askese auf sich nehmen wollen. Ebenfalls günstige Effekte beobachtet man in jüngeren Untersuchungen, wenn man Tieren wie beim Intervallfasten tageweise oder während eines Zeitfensters an jedem Tag die Nahrung vorenthält. Das periodische Fasten scheint zumindest Mäuse vor Krebs, Neurodegeneration und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu schützen. Ein Wechsel zwischen Sättigung und Hunger, so glauben viele Forscher, könnte auch der natürlichen Lebensweise von Homo sapiens viel näher kommen als der ständige Strom aus Mahlzeiten und Snacks. Die jahrtausendealte Praxis des Fastens, sie könnte sich zum Heilmittel der Moderne mausern.
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