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Fastenzeit ist dann, wenn wir uns dafür entscheiden

Dr. Françoise Wilhelmi de Toledo, wissenschaftliche Leiterin der Buchinger Wilhelmi Klinik Überlingen, erzählt im Gespräche mit der Elle, dass Fasten nicht nur eine Ernährungsstrategie ist, sondern auch eine Chance bietet, sein Leben zu sortieren. Sie erklärt darüber hinaus, wie Fasten eine Übung und Herausforderung an den Körper, Geist und Seele ist, wodurch wir über uns hinauswachsen können.

Download PDF  ELLE Ausgabe 5/2021, Autorin: Sarah Vogelsang

“Fastenzeit ist dann, wenn wir uns dafür entscheiden. Besonders gesund ist der ganzheitliche Ansatz des Heilfastens.”

Nicht jeder kann die Leere ertragen:

„Horror Vacui“ lautet der Fachbegriff, der diese Angst umschreibt. Mittlerweile steckt sie in jedem von uns. Und so füllen wir leere Räume mit Interieur, die Kommode mit Jeans, T-Shirts, Kleidern, den Kühlschrank mit allerlei Lebensmitteln, den Teller mit großzügigen Portionen. Auch die innere Leere lässt sich für gewisse Zeit ausblenden – der Alltagstress macht es möglich. Doch stecken wir in einer persönlichen Krise, sind wir bereit für eine Veränderung und stellen fest: Gerade der bewusste Verzicht bietet die Möglichkeit zur Transformation. Einen achtsamen Neustart für Körper und Geist versprechen nicht nur Retreats, sondern auch eine geführte Fastenkur. Dabei erfährt man, dass der freiwillige Verzicht auch ein Gewinn sein kann. Denn Fasten führt unweigerlich zur Begegnung mit sich selbst.

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Mut zum Wandel

Rund 3000 Gäste kommen jährlich in die Buchinger Wilhelmi Klinik am Bodensee. Manche kommen nach einer Trennung, andere nach einem Jobwechsel oder mit körperlichen Beschwerden. Dementsprechend individuell sind die Erwartungen. Die Wissenschaftliche Leiterin der Fastenkliniken Buchinger Wilhelmi und Gründungsmitglied 1986 der Ärztegesellschaft Heilfasten und Ernährung (ÄGHE), Dr. Françoise Wilhelmi de Toledo, erklärt: „Wenn man dazu neigt, Emotionen zu verdrängen, dann kann das Fasten erst mal schwerfallen. Die Ablenkung fehlt. Aber wer sich darauf einlässt, erkennt schnell die positiven Auswirkungen. Wir sind der Meinung, dass wahres Fasten nicht nur eine Ernährungsstrategie ist, sondern auch eine Chance bietet, sein Leben zu sortieren.

Der Fastenprozess

Doch bevor sich nach ein paar Tagen das Fasten-High einstellt, muss sich zuerst der Stoffwechsel umstellen. Gemeint ist der Selbstreinigungsprozess der Zellen, die sogenannte Autophagie, die nach 14-stündiger Nahrungsabstinenz automatisch eintritt. Hierbei wird der zelluläre Müll, bestehend aus beschädigten Zellstrukturen und Proteinen, in seine Einzelteile zerlegt und im Lysosom, der körpereigenen Recyclinganlage, wieder aufgearbeitet. Gesteuert wird der Ablauf durch mindestens 35 Gene. Das komplexe Selbstheilungsprogramm der Zellen ist vor allem für die Medizin interessant. Hier wird erforscht, inwiefern das Fasten Erkrankungen entgegenwirken und lindern kann. Neu ist die Publikation zum Bluthochdruck. „Bei unserer letzten Studie, die im ,Journal oft the American Heart Association‘ veröffentlicht wurde, haben 1610 Personen teilgenommen. Diese Studie zeigt, je länger man fastet, desto mehr normalisiert sich der Blutdruck. Beeindruckend ist, dass sich auch bei Menschen, die Blutdrucksenker verwenden, eine signifikante Verbesserung einstellt. Die Aufnahme von Medikamenten konnte reduziert und in 25 Prozent der Fälle sogar abgesetzt werden.“ Auch die Auswirkungen auf das Darmmikrobiom ist belegt: „Es wurde festgestellt, dass sich das Bakterienprofil gesunder Menschen während des Fastens verändert. Die Bakterienstämme, die sich von Nahrungsresten ernähren, nehmen ab. Gleichzeitig nehmen jene zu, die ihre Energie durch den Abbau abgestoßener Darmzellen decken. Drei Monate nach dem Fasten kehrt das Mikrobiom zu seinem Ausgangspunkt zurück. Aber es konnte eine positive Erhöhung von kurzkettigen Fettsäuren im Darm nachgewiesen werden.“ Durch diese Erkenntnis erhofft man sich, dass im Fall einer ungünstigen Bakterienzusammensetzung das Fasten in Kombination mit einer darauffolgenden Ernährungsumstellung das Darmbakterienprofil verbessern kann. Generell gilt: Für den langfristigen Erfolg nach der Fastenkur ist eine pflanzliche Ernährung und intermittierendes Fasten mit einer 16-stündigen Nahrungspause sinnvoll.

Healthier Aging

Fest steht: Fasten ist eine Investition in unsere Gesundheit und verzögert on top den Alterungsprozess. Die Expertin bestätigt: „Beim Fasten schalten die Körperzellen in den Protected Mode. Es wird repariert, eliminiert, recycelt und allmählich verjüngt. Im Gegenzug gilt: „Wer isst, altert, denn der Stoffwechsel funktioniert hochtourig.“ Das klingt provokant, stützt aber die Theorie der Forschung, dass das Altern des Menschen mit der Alterung der Zellorgane, der Mitochondrien einhergeht. „Sie sind unsere Kraftwerke und produzieren aus Glukose, Nährstoffe und Sauerstoff Energie. Beim Fasten werden alte Mitochondrien erst abgebaut und dann vermehrt neu aufgebaut. Das fördert die Zellregeneration und führt zum Energieboost“, so Dr. Wilhelmi de Toledo. Nach den ersten Fastentagen verspürt man häufig eine unbändige Lebenskraft. Ein Indiz dafür, dass sich der Körper gerade von innen erneuert.

Perspektivenwechsel

Neben den körperlichen Benefits trägt das Fasten ebenfalls zur „seelischen Hygiene“ bei, wie es Otto Buchinger (1878-1966), der Gründer der Fastenklinik, schriftlich festhielt. „Bei uns können die Gäste ihre oberflächliche Identität ablegen und sich auch ihren Schwächen widmen. Eine gute Zeit für eine Bestandsaufnahme“, so die Fastenkoryphäe. Wandern, Yoga, Shiatsu-Massagen, Lesungen und Konzerte helfen heute dabei. „Das ganzheitliche Fastenprogramm führt möglicherweise dazu, dass Gäste und Patienten positive Effekte des Fastens erleben, die sie gar nicht erwartet hätten“, sagt Françoise Wilhelmi de Toledo. Ohne Zeitdruck, mit medizinischer Umsorgung gelingt der Bewusstseinsprozess problemlos. Die Klarheit kommt von allein oder wird durch Meditation gefördert. Die mentale Aktivität abzuschalten, zeigt eine ähnliche Dynamik wie der temporäre Verzicht auf feste Nahrung. Beides gleicht einem Reset. „Fasten ist eine Übung, eine Herausforderung an Körper, Geist und Seele, wodurch wir über uns hinauswachsen. Es ist beeindruckend, wie viel Regenerationspotenzial ein Mensch in sich birgt“, so die Expertin.

Nahrungspausen sind GESUND und effektiv wie immer MEHR Studien beweisen…

Entwickelt wurde die Methode des Heilfastens 1920 von Otto Buchinger, einem deutschen Arzt und Philosophen, der 1953 die Klinik in Überlingen am Bodensee gründete. Heute wird sie in vierter Generation geführt und bietet Fastenprogramme von 10 („Compact“) bis 28 Nächten („Classic Royal“) an. Die Einteilung in Entlastungs-, Fasten- und Aufbautage variiert je nach Aufenthaltszeit. Medizinisches Heilfasten dient zur gesundheitlichen Prävention, zeigt aber auch positive Wirkungen bei vorhandenen Erkrankungen wie Allergien, Bluthochdruck, Diabetes Typ 2, Arthritis, bei chronischem Stress und Adipositas.

Sarah Vogelsang